Aufwachsen. Leben.

Mit einer Zigarre sitze ich vor dem Feuer und schaue den Flammen zu, wie sie die alten Gestelle mit den Vogelnetzen umzüngeln und vergehen lassen. Vorhin wollte Mama von mir wissen, ob mein Vater mich denn nett behandelt habe. Sie weiss es nicht mehr wirklich, ihre Demenz nimmt ihr immer wieder die Erinnerung, auch wenn sie vieles andere begreift. Vielleicht will sie sich auch nicht daran erinnern und es sich lieber noch einmal von aussen erzählen lassen. So als hörte sie das alles zum ersten Mal.

Nein, mein Vater hat mich in meiner Kindheit nicht geschlagen, misshandelt oder angebrüllt. Er hat mich beiläufig sein lassen und sich um meine Welt, die sich entwickelt hat, nicht weiter gekümmert. Mir träumte mit 13, dass ich in der PDA – damals noch die Wohnung von Onkel Herbert – mit Vater sitze und ihm meine Eisenbahn aus Papier zeige. Er glaubte im Traum nicht daran, dass das alles funktionieren würde. Die Deutung ist klar: der Sohn, der sich von seinem Vater eine Bestätigung für seine «Papierwelt» erwartet, für sein beginnendes Leben als Akademiker und Buchmensch, unterbreitet sie ihm, aber bekommt keine Beachtung dafür.

Mein Vater wollte, dass ich Bauarbeiter werde. Maurer, etwas Handfestes. Stattdessen rebellierte ich mit dem Gymnasium, mit Ohrring, langen Haaren und Fingernägeln, mit Medienberufen und Zivildienst. In den Ferien musste ich als Hilfsarbeiter zum Kanalbau gehen und den ganzen Tag handschaufeln, damit ich «mal sehe, wie das so ist mit richtiger Arbeit». Ich habe mir von dem Geld Gitarren gekauft, alles in die Musik investiert, die wie ein Schutzpanzer um mich herum war, damit das Leben auf dem jetzigen LIN DEN HOF erträglich blieb.

Nein, mein Vater hat mich nicht geschlagen, er hat anderen vor mir erzählt, dass ich nichts tauge, er hat bis zu seinem Tod die Firmen, in denen ich gearbeitet habe, aus Prinzip falsch ausgesprochen. «Highlife» und «Mikelsoft», das mit dem Bill Gates. Mein Vater wollte im 8. Semester von mir wissen «was ich denn eigentlich studiere» und hat mein Studium von seiner Steuer abgesetzt, ohne mir das Geld weiterzureichen. Ich habe alles selbst bezahlt. Mein Vater hat die Welt, in der ich war, nicht angenommen, sie war ihm fremd. Seine Welt bestand aus 16 Stunden Arbeit am Tag. Schicht als LKW Fahrer bei der Post und Schwarzarbeit bei einem Metzger und einem Bauern, wenn die Schicht vorbei war. Er hat mich nie angerufen oder sich nach mir erkundigt. Auf dem Sterbebett hat er an alle um ihn herum Geld verteilt, auch an mich, und es mir dann wieder aus der Hand genommen und meinem Neffen gegeben. Manchmal hat mein Vater mich mit dem Namen meines Onkels angesprochen. Ich heisse nicht Herbert, ich habe nur seine Haushälft gekauft.

Ich habe meinen Vater geliebt, ich habe mit ihm durchaus schöne Zeiten gehabt, in den Bergurlauben, aber ich habe an den Rand gedrängt in diesem Haus neben ihm gelebt und bin ihm aus dem Weg gegangen. Ich habe meinen Frondienst am Haus abgearbeitet, habe Wände angemalt, die ich vergangenen Sommer einreissen liess. Ich habe den Rasen gemäht, der jetzt zur Wiese mit seinen Denkzonen geworden ist. Ich habe meinen Vater geliebt und doch bis heute immer das Gefühl, dass er hinter mir steht und «mach endlich etwas Vernünftiges» wispert. Ich fühle mich immer noch wie ein Hochstapler in meinem Beruf, so sehr wirkt dieses Desinteresse nach. Ob Väter wissen, was sie damit anrichten, wenn sie ihre Hand nie auf die Schulter der Söhne legen und nicken?

All das habe ich meiner Mutter noch einmal erzählt. Und mich gewundert, dass ich es nie vorher so mitgeteilt habe. Vielleicht deshalb, weil man eben über diesen Konflikt in der Familie nicht sprach. Das war bereits ein Teil des Problems. Und nun sitze ich vor dem Feuer und sehe die Vogelgitter in Flammen aufgehen. Vorher habe ich noch Fliegengitter von den Fenstern der Werkstatt entfernt. Frei soll es hier sein. Hineinsehen soll man können, und sich wohlfühlen. Weil sich jemand für einen interessiert, wenn man auf dem LIN DEN HOF ist.

Das nehme ich mir ganz fest vor und ziehe noch einmal an der Zigarre. Mein Vater war Kettenraucher. Eine Zigarette nach der anderen: Ernte 23. Er holte sich Krebs dabei und starb viel zu früh mit 65. Ich hätte ihm schon gerne den fertigen Umbau gezeigt, es hätte interessiert.

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